Evidenzbasierte Medizin am IOZK

Das grundlegende Ziel des Gesundheitswesens ist eine Verbesserung der Volksgesundheit sowie eine bessere Gesundheitsversorgung für den Einzelnen zu angemessenen Kosten. Die Grundlage für dieses System wird gemeinhin als „evidenzbasierte Medizin“ bezeichnet.

Evidenzbasierte Medizin wird definiert als „gewissenhafte, gezielte, sorgfältige und vernünftige Nutzung der modernen, besten Evidenz bei Entscheidungen über die Versorgung einzelner Patienten“ und integriert klinische Erfahrung und Wertvorstellungen der Patienten mit den besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen (Sackett 1997).

Das Oxford Centre for Evidence-Based Medicine hat Evidenzklassen definiert. Diese gelten als Standard für die Einschätzung der Qualität der wissenschaftlichen Bewertung einer bestimmten klinischen Maßnahme. Die Stufen reichen von 5 (basierend Expertenmeinung oder Grundlagenforschung) bis 1 (randomisierte klinische Studien, „randomized clinical trials“ RCT) (Centre for Evidence-Based Medicine 2009).

Entscheidungsträger neigen dazu, nur Evidenz der Stufe 1 (randomisierte klinische Studien) für die Festlegung von Versorgungsstandards und die damit verbundene Kostenerstattung oder Kostenübernahme zu akzeptieren (Jones 2015). Aus verschiedenen Gründen ist dies eine kurzsichtige Betrachtungsweise, die sicherlich nicht mit der oben zitierten Definition der evidenzbasierten Medizin in Einklang steht.

  • Herkömmliche Studiendesigns prüfen Hypothesen durch den Vergleich einer Experimentalgruppe (z. B. therapeutische Maßnahme) mit einer Kontrollgruppe (keine Maßnahme, Placebo). Abgesehen von den finanziellen und logistischen Implikationen (die Planung und Durchführung solcher Studien dauert Jahre) bedeutet dies, dass der Hälfte der Patienten die möglicherweise wirksame Intervention vorenthalten bleibt. Im Hinblick auf möglicherweise tödlichen Tumorerkrankungen kann dies zu relevanten ethischen Problemen führen (Nardini 2014; Kyr 2021).
  • Herkömmliche klinische Studien ergeben für bestimmte Zielparameter Durchschnittswerte auf der Basis einer Auswertung großer Kohorten. Sie können statistische Wahrscheinlichkeiten angeben aber nicht klären, warum eine Therapie in einer bestimmten Situation wirksam oder unwirksam ist. Entsprechend ermöglichen sie keine Aussage über die Erfolgsaussichten für den einzelnen Patienten. Bezeichnenderweise sind diese aber für Kliniker von größtem Interesse und für Patienten von größtem Nutzen (Sackett 1996; Ellis 2014).
  • Herkömmliche klinische Studien beziehen sich auf große Populationen und tendieren dazu, diese zu vergrößern, um die Zuverlässigkeit der Ergebnisse zu optimieren. Auf der anderen Seite unterteilt die moderne Biologie den Krebs in immer kleinere Untergruppen. Herkömmliche Ansätze sind also nicht geeignet für die Bewertung von Therapien für Krankheiten mit einer Inzidenz von einigen hundert Patienten pro Jahr, sogenannten „seltenen Krankheiten“ (Deaton 2018).
  • Die Ergebnisse herkömmlicher klinischer Studien sind möglicherweise nicht verallgemeinerbar, da sie häufig Patienten mit einem höheren Risiko für unerwünschte Wirkungen ausschließen (Jin 2015).
  • Herkömmliche klinische Studien können wegen ihrer langen Laufzeit nicht Schritt halten mit den rasanten Fortschritten in der Biologie und der schnellen Entwicklung innovativer Therapien, einschließlich der Immuntherapie. Daher sind kleinere, kürzere und gezieltere Ansätze erforderlich (Rodon, 2015; Catani, 2017).
  • Um evidenzbasierte Medizin zu gewährleisten, sollten alle Daten verfügbar sein, sowohl veröffentlichte als auch unveröffentlichte. Bei Studien, die von Pharmakonzernen finanziert werden, werden nachteilige Ergebnisse möglicherweise nicht veröffentlicht. Da unveröffentlichte Daten nicht einbezogen werden können, ist eine ausgewogene Bewertung der gesamten klinischen Evidenz nicht möglich (EUnetHTA, 2015).

Mit dem Ziel, die Behandlungseffekte zu erhöhen, wächst das Interesse an maßgeschneiderten Untersuchungen und Interventionen, die besser auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmt sind (Schork 2015; Kyr 2020; Lawler 2022). Führende Behörden wie das U.S. Department of Health and Human Services – Food and Drug Administration (U.S. FDA, zuständig für alle Genehmigungen klinischer Studien in den USA) und die EU-Kommission für Wirtschaft, Wissenschaft und Lebensqualität, fordern daher eine Überprüfung des derzeitigen Prozesses der Entscheidungsfindung auf der Grundlage klinischer Studien. Sie empfehlen unter anderem, dass Daten, die nicht in randomisierten kontrollierten Studien und in gut konzipierten retrospektiven Studien erhoben wurden, bei der künftigen Entscheidungsfindung berücksichtigt werden sollten (FDA 2017; Couespel 2020). Solche auf individueller Ebene gesammelten Daten liefern wichtige Evidenz, die zur Entscheidungsfindung im Gesundheitswesen, zur Verbesserung der Behandlung oder zur Weiterentwicklung von Konzepten genutzt werden kann. Diese Daten, die gemeinhin als Real-World-Daten (RWD) bezeichnet werden, können als gültige wissenschaftliche Daten betrachtet und daher zur Unterstützung von regulatorischen Maßnahmen verwendet werden (Ismail, 2022).

Innovation jenseits des Standard of Care

Ursprünglich diente der Begriff “ Behandlungsstandard“ dazu, ein Mindestmaß an Versorgung zu definieren, das als akzeptabel angesehen wurde, ohne einen Behandlungsfehler zu begehen. Im Laufe der Zeit hat sich der Begriff dahingehend weiterentwickelt, dass er als „angemessene“ und beste Versorgung gilt, ein Versorgungsniveau, bei dem Risiko und Nutzen, Resultate und Kosten oder rechtliche Risiken abgewogen werden und das auf wissenschaftlichen Daten beruht. Als solcher wurde er zum Goldstandard für Behandlungen, die voraussichtlich zu einem guten Ergebnis führen, was die Erstattung der Behandlung durch die Versicherer rechtfertigt (Marshall, 2006).

Doch bei einigen metastasierenden Tumorarten sind die onkologischen Behandlungen, die dem „Standard of Care“ entsprechen, mit einer Sterblichkeitsrate von über 90 Prozent nach zwei Jahren verbunden, trotz einer Vielzahl von herkömmlichen Studien (Stewart, 2013). Daher muss das derzeitige Paradigma für die Konzipierung klinischer Studien überdacht werden. Dies ist möglich, da wir in eine neue Ära eingetreten sind, in der neue Erkenntnisse zu neuen, wirksameren Behandlungsoptionen mit höheren Erfolgsquoten führen. Dazu gehören auch Möglichkeiten für fortgeschrittene bösartige Erkrankungen, die die gesundheitsbezogene Lebensqualität verbessern, weniger toxisch sind, auf spezifische Patienten- und Krankheitsmerkmale zugeschnitten sind und gelegentlich kostengünstiger sind. Die Einführung solcher neuen Studienkonzepte verläuft langsam, ist aber machbar. Dies erfordert Innovation und die sogenannte Präzisionsonkologie, um das richtige Medikament für den richtigen Patienten zur richtigen Zeit anzubieten (Subbiah 2018).

Evidenzbasierte Medizin im IOZK

Am IOZK behandeln wir eine Vielzahl seltener, oft fortgeschrittener Krankheiten mit einer individualisierten multimodalen Immuntherapie. Darüber hinaus berichten wir in retrospektiven Studien über unsere Forschungsergebnisse („Real World Data“). Veröffentlichungen, die aus der klinischen Arbeit am IOZK stammen, entsprechen der wissenschaftlichen Evidenzstufe 1c (Fallserien) und stellen angesichts der oben dargelegten Erwägungen die höchste Evidenzstufe dar, die für diese Art von Krankheiten und klinischen Interventionen verfügbar ist (Schirrmacher 2020).

Im IOZK stehen wir also an der vordersten Front der modernen evidenzbasierten Medizin: belastbare Evidenz zur Unterstützung der klinischen Entscheidungsfindung, um klinisch relevante Fragen zu beantworten.

Unsere Publikationen finden Sie unter: https://www.iozk.de/iozk-publikationen/

 

Referenzen

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Couespel, N, Price, R. Strengthening Europe in the Fight Against Cancer – Going Further, Faster. European Parliament’s Committee on the Environment, Public Health and Food Safety, 2020. Abzurufen unter http://www.europarl.europa.eu/supporting-analyses.

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